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  • Gabriele Kuby

Der Katechon ist tot. Sein Erbe lebt



Es war für mich immer klar, dass ich zur Beerdigung von Papst Benedikt XVI. nach Rom fahren würde. Ich wollte dem größten Geist unserer Zeit die letzte Ehre erweisen, meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und durch die Teilnahme an den Sterberitualen in meiner eigenen Seele den Abschied vollziehen. Joseph Ratzinger hatte immer die Hand über mich gehalten. „Gott sei Dank reden und schreiben Sie“, hatte er zu mir gesagt, als ich ihm 2012 auf dem Petersplatz mein Buch Die globale sexuelle Revolution, Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit in die Hände legen durfte – welch großes Geschenk in einer Zeit, in der jeder, der für das Wahre und Gute eintritt, unter Feuer kommt, keiner so sehr wie Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.

Ich war auch in Rom, als Johannes Paul II. unter der Ägide seines treuen Dieners Joseph Ratzinger, damals Dekan des Kardinalskollegiums, beerdigt wurde. Welch leuchtende Tage für die Kirche, als zwei Millionen Menschen Abschied nahmen vom polnischen Papst und die Welt die großen, wegweisenden Predigten von Kardinal Ratzinger hören und ihn elf Tage später auf der Loggia des Petersdoms als neuen Papst begrüßen durfte. Hier war einer, der sein ganzes Leben, seine alles überragenden Geistesgaben, sein kindlich gläubiges Herz dem Dienst Gottes und seiner Kirche geschenkt hatte.

Immer und immer wieder hatte er darauf verzichtet, seinem eigenen Lebensplan zu folgen und als theologischer und philosophischer Gelehrter die Geistesgeschichte mit zu prägen. Er wollte nicht Bischof von München Freising werden (1977), auch nicht Präfekt der Glaubenskongregation (1981 – 2005). Dreimal hatte er seine Demission eingereicht, dreimal war sie ihm von Papst Johannes Paul II. verweigert worden. Er war sicher, so erzählte Kardinal Koch in diesen Tagen in Rom, dass der neu gewählte Papst ihm seine Bitte nicht würde abschlagen können, nicht ahnend, dass er selbst dieser Papst sein würde. Nichts wollte Joseph Ratzinger weniger, als Papst werden. Als ihm Kardinal Meisner klar machte, dass die Wahl auf ihn hinausliefe und er die Wahl annehmen müsse, wurde er beinahe ausfallend. Er wollte endlich in seinem bescheidenen Haus in Pentling bei Regensburg Bücher schreiben, ein Wunsch, der so stark war, dass er ihn sogar noch als Papst mit seinem dreibändigen Werk über Jesus Christus verwirklichte. Als er am 19. April auf die Loggia trat und das jubelnde Volk begrüßte, bat er die Menge, für ihn zu beten, dass er nicht vor den Wölfen davonlaufe.

Die Wolfsrudel kommen vor allem aus seinem Heimatland Deutschland. Sie fletschten die Zähne gegen den „Panzerkardinal“ und „Rottweiler Gottes“, was immer er auch tun mochte. Dass es Joseph Ratzinger war, der wie kein anderer gegen den sexuellen Missbrauch in der Kirche durchgegriffen hatte, besänftigte sie nicht, was nur zeigt, dass es ihnen darum gar nicht ging. Ratzinger wird gehasst, weil er nicht „Eigentum der Welt ist“ (vgl. Joh 15, 15-19) und der Kirche die Notwendigkeit der Entweltlichung predigte, bereits 1958 in seinem prophetischen Vortrag über das „neue Heidentum, das im Herzen der Kirche unaufhaltsam wächst“ und wieder in seiner Konzerthausrede in Freiburg 2011. Nicht einmal in den Tagen des endgültigen Abschieds wurden hasserfüllte Schmähungen im staatlichen Fernsehen unterbunden. Es ist, als würde eine Meute geifernder Pinscher einen Riesen attackieren, damit sein Licht die Welt nicht erleuchte, aber es wird umso heller strahlen, je mehr wir es nach seinem Tode brauchen.

Deutschland hätte sich an Benedikt XVI., der größten Respekt in der Weltkirche und bei den Führern der anderen Religionen genoss, aufrichten können, aber Deutschland hat nicht gewollt. “[Jerusalem, Jerusalem], wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt, aber ihr habt nicht gewollt“ (Mt 23:37), klagt Jesus kurz vor seiner Kreuzigung. Deutschland zieht es vor, im Morast der Schuld stecken zu bleiben und sich einem einäugigen totalitären Libertinismus zu ergeben. Beim Requiem auf dem Petersplatz am 5. Januar 2023 gab es bayerische Flaggen, aber nur eine einzige deutsche. Anders als die Polen, dürfen wir Deutschen unser Land nicht lieben und auch nicht unseren Papst.

Erschütternd ist, dass er auch im Herzen der katholischen Kirche nicht geliebt wird. Bei seinem Tod am 31. Dezember 2022 läuteten die Glocken in der Stadt Rom und in vielen Ländern, aber nicht im Vatikan. Die Flaggen waren auf Halbmast gesetzt – nicht so im Vatikan. Das Begräbnis wurde bereits fünf Tage nach seinem Tod anberaumt, obwohl das Protokoll für den Papst neun Tage vorschreibt. Der Leichnam des Papstes wurde in einem weißen Lieferwagen vom Kloster Mater Eccelsiae hinunter in den Petersdom überführt. So kalt, wie es auf dem Petersplatz beim Requiem war, so kalt war die Zeremonie. Die Vögel über unseren Köpfen schrien beim Rosenkranzgebet die Trauer der dort versammelten 50.000 Menschen heraus. Auffallend war, wie viele junge Menschen und wie viele junge Priester aus aller Welt auf den Petersplatz geströmt waren.

Papst Franziskus, an den Rollstuhl gebunden, bekleidet mit einem Rauchmantel, zelebrierte nicht selbst. In seiner Predigt von sieben Minuten wusste man nicht recht, von wem er sprach, von Jesus?, von Benedikt?, von sich selbst?, denn er erwähnte den Namen seines Vorgängers nur im letzten Satz. Ein gelehrter Theologe ließ wissen, Papst Franziskus habe vier Ratzinger-Zitate verwendet, kenntlich gemacht, hat er sie nicht. Der splendor veritatis, der Glanz der Wahrheit, der vom gesamten Wirken des „cooperator veritatis“ ausstrahlt, durfte nicht leuchten.

Aber die Zeichen sprechen. Papst Benedikt XVI. starb am 31. Dezember 2022, dem letzten Tag des Jahres, dem letzten Tag des Weihnachtsoktav, dem Gedenktag von Catherine Labouré. Die Lesung und das Evangelium dieses Tages scheinen wie für ihn ausgesucht. In der Lesung heißt es: „Meine Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichriste gekommen. Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns; denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie bei uns geblieben. Es sollte aber offenbar werden, dass sie alle nicht zu uns gehörten“ (1 Joh 2, 18-21).

Vor dem Hintergrund des sogenannten „Synodalen Wegs“ der deutschen Bischöfe im Schulterschluss mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, einem nicht repräsentativen Laiengremium, treffen diese Worte den Nagel auf den Kopf, denn die Mehrheit der Bischöfe in Deutschland befindet sich nach dem Urteil des US-amerikanischen Publizisten George Weigel in der Apostasie – ist vom Glauben abgefallen. Bei einem Treffen der deutschen „Initiative Neuer Anfang“, einer Sammlungsbewegung treuer Katholiken, mit Kardinal Gerhard Müller anlässlich des Requiems stellte ich die Frage, ob er es für möglich halte, dass der deutsche Synodale Weg die Vorhut des gesamtkirchlichen synodalen Weges sei. Er beantwortete die Frage nicht. Es wird sich bald erweisen.

Papst Benedikt ist vor den Wölfen nicht davongelaufen, aber sie haben ihm mit ihrer „sprungbereiten Feindseligkeit“ größtes Leid zugefügt und zu seinen Lebzeiten sein Bemühen hintertrieben, die Kirche zu ihrer eigentlichen Sendung zurückzuführen: der Verkündigung der unveränderlichen Botschaft Jesu Christi und der Bereitstellung der Heilsmittel für die Gläubigen, um das ewige Leben in der Herrlichkeit Gottes zu erlangen.

Das Evangelium am Sterbetag war der Johannesprolog, die größte Verdichtung der Offenbarung Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus. „Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Joseph Ratzinger hat den Prolog unermüdlich entfaltet mit seiner Verkündigung und mit seinem Leben. Nun ist er aufgenommen von den Seinen im Himmel, über die er in seinem langen Leben so gut gesprochen hat.

Der 31. Dezember war auch der Gedenktag von Catherine Labouré, die durch eine Erscheinung der Muttergottes beauftragt wurde, eine Medaille prägen zu lassen, welche sich als „wundertätige Medaille“ millionenfach in der Welt verbreitet hat mit dem Gebet: „O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir zu Dir unsere Zuflucht nehmen“ – auch dies ein Testament.


Nun ist er tot, der KATECHON, der noch zehn lange Jahre nach seinem Rücktritt ausharren musste und vielleicht noch aufgehalten hat, dass sich „der Widersacher in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt“ (2 Tess 2,4). Ob sein Rücktritt Gottes Wille war, wie Benedikt sicher glaubte, das wird er nun wissen. Joseph Ratzinger liebte Jesus Christus und hat ihm opfer- und leidensbereit mit allen Fasern seines großen Lebens gedient. Er liebte auch die Menschen und tat alles, damit der Heilsweg der Kirche begehbar bleibt. Signore, ti amo, waren seine letzten Worte. In der Bedrängnis, die vor uns liegt, können wir aus seinem Erbe schöpfen, wie auch wir in dieser Liebe wachsen und sterben können.


(Erschienen am 12. Januar in kath.net

und in einer Neufassung auf Englisch in The European Conservative, Issue 26, Spring 2023.)

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